10.05.23

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 18 Brief

18. Brief, München - Mai 2023

Briefe zum gnostischen Christentum

 „Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39)

 

Jesus gründet eine Geistesschule

 

Nachdem Jesus mit dem Feuer des Geistes getauft, zum bewussten Sohn Gottes geworden war und die Versuchungen in der Wüste durch den „Teufel“ bestanden hatte, gründete er eine Geistesschule, einen Aschram. Er sammelte eine Gruppe von Schülern, die in die Lage versetzt werden sollten, die Botschaft und Kraft ihres Lehrers und Meisters als seine Helfer mit zu verbreiten und nach dessen Tod selbstständig weiter auszubauen.

 

Wie fand Jesus seine Schüler? Wie wurden Menschen seine Schüler? Die Evangelisten machen verschiedene Angaben. Einmal (so berichten Matthäus und Markus) sah Jesus „zwei Brüder (von Beruf Fischer) das Netz in den See auswerfen“ und sagte „Kommt her, folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen… Da verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.“ Kurz darauf sah er zwei andere Brüder, ebenfalls Fischer, mit ihrem Vater ihre Netze ausbessern, und er rief sie zu sich. Da verließen sie alsbald das Schiff und ihren Vater und folgten ihm nach.“

Mit solchen einfachen Worten zeigen diese beiden Evangelisten, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden Brüder dem Ruf aus der göttlichen Welt folgen, als er an sie ergeht. Entscheidend ist der Ruf Jesu, der von manchen Menschen im Innern wahrgenommen und befolgt wird. Jesus wird als legitimer Meister erkannt, und eventuelle berufliche Hindernisse, ihm zu folgen, spielen keine Rolle mehr. Beruf und Familie (Vater) werden verlassen. Denn der Ruf ist lebenswichtig, alle äußeren Rücksichten müssen und werden sich ihm fügen. Jesus seinerseits hat die spirituellen Möglichkeiten der beiden Brüder erkannt und weiß, dass sie sich zu seinen Mitarbeitern (zu Menschenfischern) eignen.

 

Lukas verknüpft die Berufung der ersten Schüler mit einem scheinbaren Wunder. Jesus fährt mit Petrus und dessen Freunden Jakobus und Johannes, alle drei sind  Fischer, im Schiff des Petrus auf den See Genezareth hinaus und fordert sie auf, ihre Netze zum Fang auszuwerfen. Simon antwortet: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen! Doch auf dein Wort will ich die Netze auswerfen“ (Lukas 5). Es ist klar, dass alle drei Jesus schon als Meister kennen gelernt haben und darauf vertrauen, dass sie auf seinen Befehl hin doch noch etwas fangen würden. Und in der Tat, sie füllten beide Schiffe, das des Petrus und seiner Gefährten mit Fischen, „so dass sie zu sinken drohten“. Da erschraken alle, die auf den Schiffen waren, da sie die besondere Kraft des Meisters erkannten. Petrus im besonderen wurde sich durch die von Jesus ausgehende Kraft seiner eigenen Schwäche als „sündiger Mensch“ bewusst und bat den Meister, sich von ihm zu entfernen: „Gehe hinaus von mir!“

Der Vorgang ist nicht nur charakteristisch für erste Begegnungen von Menschen mit einer Geistesschule oder einem Eingeweihten. Der Gerufene erkennt sich bei der Begegnung mit einer hohen geistigen Kraft selbst, wie an einem absolut gültigen Maßstab gemessen, und hält sich für unwürdig, einen geistig seelischen Weg zu gehen oder einer entsprechenden Gemeinschaft anzugehören. Eine solche Erfahrung ist ihm, dem Gerufenen, auch ein Beweis dafür, dass ihn eine höhere Macht ins Herz getroffen hat. Er glaubt nicht im mindesten, kraft seiner Verdienste ein Anrecht auf den geistigen Weg zu haben.

Der Leiter einer solchen Geistesschule oder sein Kraftfeld „sagt“ aber zu ihm: „Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen.“ Der Schüler wird sogleich mit einer Aufgabe konfrontiert, die ihm eine neue Würde verleiht. Angst vor eigener Unfähigkeit ist nicht am Platz, da mit der neuen Aufgabe immer schon die Kraft verbunden ist und bleibt, als Helfer des Meisters für die Menschen zu wirken.

Es zeigt sich, dass die bei Lukas vorkommenden ersten Schüler Jesu ihre Aufgabe als Menschenfischer erkannt haben und von nun an dem Meister ihre Arbeitsergebnisse zur Verfügung stellen. So wächst in der ganzen Menschheit allmählich die ihr und ihren geistigen Leitern zur Verfügung stehende, befreiende göttliche Kraft.

 

Das Bild von den „Menschenfischern“ wird erst gut verständlich, wenn man sich das Meer – oder den See Genezareth – als Symbol für die irdische Welt vorstellt, und statt der Fische wirklich auch Menschen darin sieht. In dieser irdischen Welt mit ihren unzähligen sich kreuzenden und behindernden Strömungen irren die Menschen umher, und unternehmen ständige Versuche, die Stürme und Wogen des Schicksals zu glätten, um ein erträgliches Leben führen zu können. „Glättungen“: das sind die Bemühungen, aus der irdischen Welt mit ihrer Vergänglichkeit und ihren Stürmen eine zumindest erträgliche Welt zu machen.

Denn die Unerträglichkeit der irdischen Welt bringt die Menschen stets in Versuchung, sie auf die eine oder andere letzten Endes ungeeignete Art verbessern zu wollen. Das hatten die Versuchungen Jesu eindringlich gezeigt.

Der Weltverbesserer versucht erstens, den unvermeidlichen Nahrungsmangel in dieser Welt durch geeignete Gesellschaftssysteme in den Griff zu bekommen und ein Wohlstandsparadies zu schaffen. Er vergisst dabei, dass dies nach den Gesetzen des irdischen Lebens unmöglich ist, das doch stets von Engpässen begleitet sein wird, und dass er durch diese ständigen Bemühungen den eigentlichen Sinn des Lebens verfehlt: nämlich aus dem „Wort“ zu leben.

Der Weltverbesserer versucht zweitens, sich selbst und sein Ich über das Chaos zu erheben und sich zu vergöttlichen, um unangreifbar in Ruhe und Frieden leben zu können. Auch das kann nicht gelingen, weil das Chaos im Menschen ist. Er nimmt es mit, welche Wege als unvollkommenes Ich er auch einschlägt.

Und drittens glaubt er, nachdem all diese Versuche gescheitert sind, durch Ausübung unumschränkter Macht der Wenigen über die Vielen seine Ich-Ziele erreichen zu können. Das führt ebenfalls zu unerträglichen Situationen. Denn das Entscheidende im Leben ist die göttliche Liebe, und die irdische Un-Liebe wird niemals durch Zwangsmaßnahmen beseitigt werden können.

All diese Bestrebungen im Meer des menschlichen Lebens sind unzureichend, bis der Mensch erkennt, dass er in eine andere Realität gelangen muss, um von dort aus der irdischen Realität auf neue Weise begegnen zu können. Ohne Hilfe kann er das nicht. Deshalb wird er dankbar sein, wenn das „Schiff“ einer Mysterienschule mit einem Meister an Bord über die unruhigen Wogen herankommt, ihn aus dem Chaos herausfischt und an Bord nimmt. Die Mysterienschule vertritt die Kraft einer un-irdischen Realität.

 

Im Evangelium des Johannes wird die Begegnung von Menschen mit einer Mysterienschule noch auf andere Weise als in den synoptischen Evangelien dargestellt. Bei Johannes sind die künftigen Schüler schon darauf vorbereitet, auf einen Eingeweihten zu stoßen. Zwei von ihnen sind Schüler von Johannes dem Täufer, also einer asketischen, Körper und Seele reinigenden Einrichtung, und hören vom Täufer, wie dieser Jesus als „Lamm Gottes“ bezeichnet. Sie kennen diesen Ausdruck für den kommenden Messias schon aus dem Alten Testament (Jesaja 53, 7), glauben dem Täufer und folgen Jesus nach.

Sie möchten aber noch genauer wissen, wo „Jesus sich aufhält“, mit anderen Worten, sie wollen zuerst noch das Arbeitsfeld dieses Rabbi (des Lehrers) kennen lernen, um dann ihre Entscheidung zu treffen. Jesus lädt sie ein: „Kommt, so werdet ihr es sehen!“ Ein Mensch darf oder kann nur Mysterienschüler werden, wenn er mit eigenen Augen sehen und mit eigenem Bewusstsein das Kraftfeld einer Schule auf sich wirken lassen kann. „Es war um die zehnte Stunde“: zehn ist die Zahl einer abgeschlossenen Entwicklung und des Übergangs in eine neue.

Und als sie sich einige Zeit (einen Tag) bei Jesus aufgehalten haben, spricht der eine Schüler, Andreas, zu seinem Bruder Petrus: Wir haben den Messias (griechisch-hebräisch für „den Gesalbten“) gefunden. Umgekehrt erkennt Jesus Petrus, den Bruder des Andreas, und weiß sogleich, wer Petrus ist und welche Fähigkeiten in ihm schlummern. Er nimmt ihn als Schüler an, der später, nach dem Durchleben großer, aus Existenzangst geborener Bekenntnisschwäche (Verleugnung) ein „Fels“ (hebräisch Kephas) des Glaubens sein wird.*

 

 

* [Anmerkung: Einige Schüler von Johannes dem Täufer oder anderen asketischen Schulen kamen also zu Jesus. Eine dieser Schulen existiert bis heute im Orient, einige Mitglieder haben sogar in Deutschland Zuflucht gefunden. Sie besitzen ein heiliges „Buch Ginza“ mit den Ordensregeln, zum Beispiel, dass eine Taufe in fließendem, lebendigem Wasser durchgeführt werden muss, um gültig zu sein. In diesem Buch Ginza wird auch Jesus erwähnt, der dort jedoch größten Vorwürfen begegnet und als Feind gilt. Bestand schon zu Jesu Zeiten oder etwas später eine heftige Konkurrenz zwischen beiden Schulen, einer Schule der Vorbereitung auf den Weg und einer Schule des Weges selbst?

Das selbe Phänomen einer Konkurrenz zwischen Schulen der Vorbereitung und des Weges selbst zeigt sich mitunter auch in der aktuellen Gegenwart. Es ist nur zu hoffen, dass keine Animositäten zwischen den Schülern beider Schul-Arten auftreten. Warum sollte ein Mensch nach der Vorbereitung in einer Asketenschule nicht in eine Mysterienschule überwechseln, in der er den Weg fortsetzen kann? Im Buddhismus ist so etwas die Regel, und niemand stößt sich daran.]

 

Doch beim Evangelisten Johannes kommt noch eine zweite Ebene der Berufungen ins Spiel als in den synoptischen Evangelien. Ein künftiger Schüler Jesu namens Nathanael erfährt von seinem Freund Philippus, dass dieser den Jesus aus Nazareth, den von den Propheten vorhergesagten Messias, gefunden habe. Nathanel ist skeptisch: „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Auch heutige Wahrheitssucher können, wenn sie von einer Mysterienschule und deren Umfeld hören, skeptisch sein. Denn immer lassen sich in der Organisation einer solchen Schule Anknüpfungspunkte für Kritik und Bedenken finden. Da gibt es nur die Möglichkeit, sich selbst Einblick zu verschaffen. Und deshalb sagt Philippus zu Nathanael: „Komm und sieh!“ Als nun aber Nathanael zu Jesus kommt, erlebt er, dass der Meister sein Innerstes kennt. Jesus weiß, dass er, Nathanael als „Israelit, in dem kein Trug ist“ – das bedeutet, als Schüler eines hohen Grades –, sich schon lange auf dem geistigen Weg befindet.

Da fragt Nathanael: „Woher kennst du mich?“ Jesus erklärt ihm, er habe ihn schon in der feinstofflichen Sphäre „unter dem Feigenbaum“ sitzen gesehen (das Sitzen unter dem Feigenbaum ist ein Bild für „Meditation“). Nathanael schließt aus dieser „Hellsichtigkeit“ Jesu, dass er den „Sohn Gottes, den König Israels“, vor sich habe. Jesus antwortet dem Sinn nach: Wegen dieser meiner Fähigkeit der Hellsichtigkeit glaubst du?

In dieser Antwort Jesu schwingt der Einwand mit: Ist denn ein Glaube an mich als den Messias auf Grund solcher Fähigkeiten der Hellsichtigkeit zuverlässig? Befreit er dich endgültig von den irdischen Bindungen? Zuverlässig ist doch nur deine eigene Erfahrung im Innersten deiner Seele. Du wirst die Vorläufigkeit deiner meditativen Vorstellungen einsehen und eine bessere Grundlage für den geistigen Weg finden müssen: die Kraft des Christus, die du zuerst im Herzen erfahren wirst. „Dann wirst du Größeres als dies sehen“ (Johannes 1, 50).

Und an alle Schüleranwärter gewandt, fährt Jesus fort:  Entscheidend ist doch, dass ihr später selbst „den Himmel offen und die Engel Gottes auf den Sohn des Menschen auf und nieder steigen“ seht. (Johannes 1, 51)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare bitten wir brieflich oder per E-mail an die Adresse:

Königsdorfer Verlag, Zellwies 11, 82549 Königsdorf, bzw. E-mail-Adresse: www.koenigsdorfer-verlag@web.de zu richten, zu Händen von Konrad Dietzfelbinger.