19.09.24
Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 28. Brief
Briefe zum gnostischen Christentum
„Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39) München, September 2024
28. Brief: Jesus und die Schriftgelehrten
Lehrend und heilend halfen Jesus und seine Schüler körperlich und seelisch Kranken, wieder zu gesunden. Auch heute leisten die christlichen Kirchen mit Hilfe besonderer Einrichtungen viel in dieser Hinsicht und befolgen so das Liebesgebot des Meisters, Menschen zu lieben und ihnen zu helfen.
Doch ist diese Arbeit, betrachtet man das Leben von Jesus und sein Verhältnis zu seinen Schülern, nur der Anfang einer endgültigen Gesundung des Menschen. Nur ein bewusster innerer Weg kann den irdischen Menschen aus der Abhängigkeit von der irdischen Welt mit ihren Leiden und Schmerzen befreien und ihn in seine wahre Heimat, die göttliche Welt, zurückführen. Die Aufgabe des Christentums ist weit größer und umfassender als Arbeit für Kranke und Schwache. Es zeigt vor allem einen Weg der bewussten Rückkehr des Menschen aus der Sterblichkeit und Gebundenheit in der irdischen Welt in die Unsterblichkeit und Freiheit des ursprünglichen Menschen in der göttlichen Welt. Jesus ging diesen Weg selbst und zeigte ihn seinen Schülern. Darin ist er Beispiel und Hilfe nicht nur für heutige, sondern auch für zukünftige Christen.
Einige Zeit, bevor er nach Jerusalem kam, erlebte er etwas, was in den westlichen Bibeln als "Verklärung", in den östlichen Bibeln des "orthodoxen Christentums" als "Transfiguration" bezeichnet wird (Markus 9, 2-13).
Jesus wird in dieser Erzählung in die Reihe der großen Menschheitsführer Mose und Elia gestellt und bezieht daraus gesteigerte Autorität. Denn Mose war es, der als Beauftragter Jahwes, des Gottes des Alten Bundes, das Volk Israel aus der "Knechtschaft" in Ägypten bis zur Befreiung im „Gelobten Land“, einem neuen Bewusstseinszustand, führen sollte. (Das „Verheißene Land“, in dem „Milch und Honig fließen“ (2. Mose 3, 17), ist, wie viele in der Bibel genannte scheinbar konkrete Personen oder Verhältnisse, kein geografisches Land Palästina. Es ist ein Bild für einen Zustand der „Lösung der Seele“ von der Herrschaft der irdischen Instinkte und Leidenschaften im Vergleich zur „Knechtschaft“ in der irdischen Welt.)
Elia war der Prophet des Neuen Bundes, der Ära des Christus, der den Übergang vom alten Bund zum neuen Bund mit Christus in Gestalt Johannes des Täufers einleitete. Er rief das Volk Israel, das inzwischen das „Gelobte Land“ in Besitz genommen, mit anderen Worten, einen Seelenzustand des dem Jahwe gehorsamen, von irdischen „Götzen“ freien Ichs entwickelt hatte, dazu auf, nun auch über die relative Freiheit im Gesetz des Jahwe hinauszugehen und die entscheidende Voraussetzung zur Christus-Ära zu schaffen: die Aufgabe, in den Zustand eines in Christus Befreiten, im heiligen Geist selbstständigen Menschen, mit anderen Worten: „ins Himmelreich“ zu gelangen. Deshalb die Aufforderung Johannes des Täufers: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Jesus selbst hatte Johannes den Täufer, bei dem er einige Jahre als Asket, als "Nazorärer", verbracht hatte, als die Wiederverkörperung des Propheten Elia bezeichnet.
Die Menschheit, symbolisiert durch das Volk Israel, musste und muss also drei Entwicklungsstufen der Seele durchlaufen. Ein Teil der ursprünglichen Menschheit hatte sich in einer ersten Epoche von der Ordnung der göttlichen Welt gelöst, war eigene Wege gegangen und war in die irdische Welt versetzt worden, in der sie zunächst in Knechtschaft unter dem Pharao lebte. In einer zweiten Epoche wurde sie durch Mose zum Gehorsam gegenüber dem Jahwe-Gott geführt, um schließlich in einer dritten Epoche in den von Jesus dem Christus gebrachten Geist-Seelenzustand der Selbstverantwortung in Christus einzutreten. Der kosmische Sinn dieser irdischen Welt war und ist es, der von Gott getrennten Menschheit die Rückkehr zum Ursprung, zur Einheit mit dem Weltschöpfer, der die Liebe, Weisheit und Freiheit selbst ist, zu ermöglichen.
Die endgültige Rückkehr dieses eigenwilligen Teils der Menschheit zum Ursprung ist das eigentliche Ziel des Christentums. Sie ist nur möglich, wenn der irdische sterbliche Mensch, nachdem er in einer ersten Epoche die Abhängigkeit von den „Götzen“, wie sie im Alten Testament genannt werden, aufgelöst hat, in einer zweiten Epoche in den Zustand eines dem Jahwe gehorsamen Ichs eingetreten ist. Erst dann kann er, in einer dritten Epoche, in der Kraft des Christus eine neue, unsterbliche Persönlichkeit und unsterbliche Seele aufbauen, die dem göttlichen Geist des Ursprungs wieder entsprechen. Das ist die "Auferstehung von den Toten", das Verlassen des Zustands der Sterblichkeit in der irdischen Welt, und der Wiedereintritt in die Unsterblichkeit in der ursprünglichen göttlichen Welt.
Jesus der Christus hatte, nachdem er freiwillig in eine sterbliche Persönlichkeit inkarniert war, diesen Aufbau eines unsterblichen neuen Menschen, eines "neuen Tempels", durchgeführt, bis er in der Auferstehung seines dreifachen Wesens – seines unsterblichen Leibes, seiner unsterblichen Seele und seines unsterblichen Geistes – wieder in die göttliche Welt des Ursprungs zurückgekehrt war. Er hatte die "Transfiguration" seines ganzen Wesens vollzogen, um aus der Sterblichkeit in der irdischen Welt in die Unsterblichkeit in der göttlichen Welt zurückzukehren.
Er hatte das getan, um allen Menschen den selben Weg zu ermöglichen. Denn jeder Mensch dieser irdischen Welt hat im Prinzip die Aufgabe, auf diesem Weg in seine ursprüngliche Heimat, die göttliche Welt des Weltschöpfers, zurückzukehren. Jeder Mensch, der diesen Weg geht, wird, wie Jesus noch im irdischen Leben, sein sterbliches Wesen durch einen neuen, unsterblichen "Tempel" ersetzen. Er wird wieder in die Weltgemeinschaft der ursprünglichen Menschheit aufgenommen werden, die wieder im Einklang mit dem göttlichen Weltschöpfer, seiner Liebe und seiner Freiheit lebt.
Es ist eine Aufgabe, mit der noch während des irdischen Lebens begonnen werden muss. Die Auferstehung des dreifachen ursprünglichen Menschen ist kein Geschenk, das dem Menschen so ohne weiteres in den Schoß fällt oder ihm am jüngsten Tag einfach zuteil wird. Das Ziel des ursprünglichen Christentums ist es gerade, dass der irdische, dem Jahwe gehorsame Ich-Mensch auf einem "transfiguristischen Weg", einem Weg der vollständigen Umwandlung seines ganzen Wesens, sich diese Auferstehung erringt – und zwar mit Hilfe und nach dem Vorbild des Christus Jesus. So ungewohnt diese Zielvorstellung dem heutigen Christen sein mag – sie steht seit dem ursprünglichen Christentum mehr oder weniger bewusst vor ihm. Hatte nicht Paulus geschrieben: "Ich jage ihm aber nach (dem Ziel der Vollendung), ob ich es auch ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen worden bin"? (Brief an die Philipper, 3, 12).
Diese Aufgabe, dieses Ziel des ursprünglichen Christentums, ist im Kirchenchristentum schon sehr bald nach dem Leben des Christus Jesus vergessen worden. Das heutige Christentum hat sich zu einer Art "amputiertem" Christentum entwickelt, einem Christentum, das seines Kerns beraubt worden ist. Wahres Christ-Sein bedeutet, dass der Christ, jeder Christ, seine eigentliche Aufgabe begreift: im irdischen Leben wieder zum ursprünglichen Menschen zu werden, als der er aus dem "Vater", dem Schöpfer der ursprünglichen Welt, hervorgegangen war, und diese Aufgabe zu erfüllen.
Jeder Christ, welcher Nationalität auch immer, ist auf der Erde, um die Auferstehung des Christus Jesus nachzuvollziehen oder zumindest durch sein Leben vorzubereiten. Eine solche Aussage wirkt höchst befremdlich auf den heutigen Kirchenchristen, der immer nur gehört hat: "Wenn ich ein guter und frommer irdischer Mensch bin und daran glaube, dass Jesus mich erlöst hat und mich am Jüngsten Tag von den Toten auferwecken wird, dann wird mir diese Auferweckung am Jüngsten Tag auch zu Teil werden." Doch ist, um es noch einmal zu sagen, diese Vorstellung und dieser Glaube ein Irrtum, der sich in den ersten Jahrhunderten nach Christus im Christentum verbreitet und den eigentlichen Ernst des Christentums verdunkelt hat.
Statt dessen fordert das ursprüngliche Christentum vom Christen, dass er die Auferstehung des Leibes und der Seele, die "Auferstehung von den Toten", in diesem Leben wenigstens anstrebt. Sie kann angestrebt werden, weil Jesus sie durch sein Leben beispielhaft durchgeführt und allen seinen Schülern damals wie heute ermöglicht hat. Ein bloßer Glaube, dass er sie seinen damaligen Schülern geschenkt hat oder dem frommen heutigen Christen am Jüngsten Tag schenken wird, erniedrigt das Christentum und den heutigen Christen, der nicht mehr weiß, dass er seine eigentliche Menschenwürde als ursprünglicher, unsterblicher Mensch selbst verwirklichen muss – wenn auch mit Hilfe der göttlichen Kraft des Christus und dessen Vorbild.
Dieses Ziel des ursprünglichen, wahren Christentums kann als Krönung, als dritte Epoche der Menschheitsentwicklung gesehen werden, welche im Neuen Testament dargestellt wird. Die vorausgehende, zweite Epoche der Menschheitsentwicklung war die Vorbereitung auf dieses Ziel, unter anderem in Israel durch das Jahwe-Gesetz und die alttestamentarischen Propheten. Diese Epoche hatte die erste Epoche, die der kindlichen Menschheit abgelöst, die sich auf der Erde erst einmal einrichten musste und zunächst verschiedene Natur-Götter verehrt hatte: Verkörperungen der Naturgewalten, Instinkte und Leidenschaften.
Jesus bezieht sich immer wieder auf die zweite, die Befreiung der Menschheit vorbereitende Epoche, in der sich der Großteil der damaligen Menschen seinerzeit befand und weiterhin befindet. Sie wird durch die Ereignisse des Alten Testaments dargestellt. Die Israeliten verlassen "Ägypten", das Reich und die Epoche der Knechtschaft in der irdischen Natur, und ziehen 40 Jahre lang durch die Wüste, geführt von Jahwe und dessen Vertreter Mose. Sie haben die Aufgabe, ein dem Jahwe, dem "Ich bin der Ich-bin", gehorsames Ich aufzubauen, das sich von den "Götzen" gelöst hat – das sind die Prinzipien der irdischen Natur, wie "Macht" und "Reichtum", „Fruchtbarkeit“ und „Sexualität“, verkörpert zum Beispiel im Baal oder der Astarte –, um allein dem Jahwe-Gott, dem "Ich bin der Ich-bin" gehorsam zu sein. Denn ein denkendes, vernünftiges Ich ist die Vorbereitung für die dritte Epoche der Menschheitsentwicklung, in der der Mensch den inneren Gott, das wahre, ursprüngliche Geistwesen, verwirklichen soll. Paulus nannte dieses ursprüngliche, im Lauf der Zeiten unwirksam gewordene Geistwesen den "Christus in mir", dessen Gesetze nicht mehr auf "steinerne Tafeln", die den äußeren Zwang versinnbildlichen, sondern auf "fleischerne Tafeln des Herzens" geschrieben sind, welche die Freiheit des Evangeliums bedeuten (2. Korintherbrief 3,3).
Obwohl Jesus diese Epoche der inneren Freiheit verkörperte, legte er Wert darauf, dass bis zu diesem Zustand das äußere Gesetz der Jahwe-Epoche gelten müsse. Ohne ein selbstständig denkendes Ich kann die innere Freiheit des Menschen nicht verwirklicht werden. Deshalb sagte er: "Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zur erfüllen." (Matthäus 5, 17) Die Erfüllung des Gesetzes durch die neu gewonnene Freiheit ist nur dadurch möglich, dass vorher das Gesetz erfüllt worden und dieses dem Menschen in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Aus diesem Grund begann Jesus nach seinem Einzug in Jerusalem mit der „Tempelreinigung“. Das Gesetz des Mose, das seine Bedeutung hatte und weiter haben würde, solange sich die Menschen in einem Zwischenzustand zwischen Vorbereitung und neuem Werden bewegten, musste vorläufig weiterhin gelten. Aber wie ein Schiff, das lange Zeit im Wasser gefahren ist, dicke, die Fahrt behindernde Polster aus Muscheln und Schlingpflanzen am Außenboden angesetzt haben kann, so hatte auch das Mose-Gesetz durch den Geschäftssinn seiner Vertreter und die Ausbeutung der ihnen anvertrauten Menschen viel an Kraft und Klarheit verloren. Diese Kraft und Klarheit wiederherzustellen, war die erste Aufgabe, die sich Jesus nach seinem Einzug in Jerusalem stellte. Deshalb steht Mose als der Vertreter des Jahwe-Gesetzes in der späteren Szene der Verklärung neben Jesus. Damit wird die Notwendigkeit des Gesetzes als Vorbereitung für die Freiheit in Christus anschaulich hervorgehoben.
Jeder heutige Schüler von Jesus dem Christus sollte sich dieser Tatsache bewusst sein. Die scharfen Worte, die Jesus in Jerusalem gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten spricht, beziehen sich alle auch auf das Innere eines Schülers der neuen Ära und der Gegenwart, der immer noch selbstgerecht glaubt, mit seiner Treue zum alten Gesetz schon am Ziel der Rechtfertigung vor Gott angekommen zu sein. Solange er wie die Schriftgelehrten am Dogma hängt, solange die heutigen religiösen Leiter wie die damaligen Pharisäer die Menschen durch harte Anwendung des Dogmas in Schuldbewusstsein versetzen oder sogar durch dieses Druckmittel Reichtümer für ihre Organisation ansammeln, müssten sie sich als Betroffene der Tempelreinigung fühlen, die Jesus vollzog.
Die überaus scharfe Kritik, die Jesus durch seine Weherufe über die Schriftgelehrten und Pharisäer (Matthäus 13-36) an den damaligen religiösen Führern geübt hat, hat so manchen späteren Theologen zu der Theorie veranlasst, in Wirklichkeit sei Jesus ein Revolutionär gewesen und habe sich vor allem als ein solcher verstanden. Aber seine Bemerkung über das Verhältnis von Gesetz und Freiheit (Matthäus 5, 17) spricht gegen diese Theorie.
Die Szene der Tempelreinigung muss sich übrigens nicht so sichtbar abgespielt haben, wie im Neuen Testament geschildert wird. Die Verfasser der Evangelien kannten das Alte Testament gut, und benützten mitunter dortige Aussagen, um aktuelle Szenen auszumalen. Markus schreibt: „Steht nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker“? (Markus 11, 17) Und im Alten Testament spricht Gott durch seinen Propheten Jeremia: „Ist denn dieses Haus, das nach meinem Namen genannt ist, in euren Augen eine Räuberhöhle geworden?“ (Jeremia 7, 11).
Ebenso deutlich sprechen die Gleichnisse Jesu, die auf die geistlichen Leiter des Volkes gemünzt sind. Zum Beispiel kam er auf dem Weg nach Jerusalem an einem Feigenbaum vorbei, der nur Blätter hatte, und ging hin, „ob er nun auch etwas daran fände… Aber er fand nichts als Blätter (es war nämlich nicht die Zeit der Feigen)... Da sprach er zu dem Feigenbaum: In Ewigkeit soll niemand mehr Frucht von dir essen“ (Markus 11, 13-14). Die geistlichen Leiter des Volkes hatten wie der "Feigenbaum viele Blätter" in Form von Büchern, Ritualen und schönen Gebäuden erzeugt, aber ihre eigenen Herzen und die der ihnen anvertrauten Gläubigen nicht mit Liebe zu Gott erfüllt und keine entsprechenden "Lebensfrüchte" hervorgebracht. "Es war nämlich nicht die Zeit der Feigen", heißt es in dem Gleichnis. Sie hatten die Zeit, in der sie Früchte hätten bringen müssen, versäumt.
Und als Jesus am Morgen mit seinen Schülern vorüberging, sahen sie den Feigenbaum „bis zu den Wurzeln verdorrt.“ (Markus 11, 20) Jesus hatte dem kosmischen Gesetz Ausdruck gegeben, dass einem Menschen oder einer Organisation, die zu lange ihre Aufgaben nicht erfüllen, schließlich auch die dafür erforderlichen Kräfte genommen werden. Alle Gleichnisse von Jesus gelten zu allen Zeiten und sind auch heute aktuell.
Die Hohenpriester und Schriftgelehrten hörten von den Taten oder Vorwürfen Jesu und suchten, „wie sie ihn ins Verderben bringen könnten. Denn sie fürchteten ihn“ (Markus 11, 18)
Wenn jemand ein Christ im Sinne des Meisters Jesus sein will, muss er die Wege für den Einzug des Befreiers in die Seele recht machen und sich darauf vorbereiten. Es kommt darauf an, dass er die fundamentale Unvereinbarkeit des irdischen Ich-Zustands mit dem künftigen Jesus- oder Christuszustand erkennt. Er wird dafür Sorge tragen, dass das äußere Gesetz der alttestamentarischen Epoche der Menschheitsentwicklung von der Epoche der inneren Freiheit abgelöst wird. Die Bergpredigt mit den Worten des Christus an seine Schüler unterstreicht und erklärt diese Aufgabe. "Zu den Alten ist gesagt ... ich aber sage euch..."
Die wesentliche Bedingung, dass ein Mensch aus dem Zustand des Alten Testaments in den des Neuen Testaments gelangt, wird von allen Evangelisten ähnlich beschrieben:
Matthäus 16, 25: Wer sein Leben retten will der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.
Markus 8, 35: Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten.
Lukas 17, 33: Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten.
Johannes 12, 25: Wer sein Leben liebt, verliert es, und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.
Wer ein Schüler von Jesus Christus sein will, wird also sein Leben der alttestamentarischen Ich-Identität bewusst im neuen Leben der neutestamentarischen Christus-Identität aufgehen lassen, um das End-Ziel seines Weges, die Rückkehr in die ursprüngliche Welt, zu erreichen.
Um es noch einmal zu sagen: Warum also hat Jesus trotzdem so großen Wert darauf gelegt, dass die alttestamentarische Religion des Jahwe-Gottes rein erhalten blieb? Die Antwort lautet: Diese Religion beschreibt den Zustand, den der Mensch erreichen muss, ehe er den Schritt zum letzten Ziel seiner Entwicklung tun kann. Deshalb musste Jesus so auf die Reinheit der alttestamentarischen Religion dringen. Ohne ein intaktes, selbstständiges Ich kann der Schritt des Menschen in die neutestamentarische Phase nicht erfolgen. Der Mensch braucht ein selbstständiges Denken, um seinen alttestamentarischen Zustand erkennen und nach dem neutestamentarischen Zustand streben zu können. Der alttestamentarische Zustand ist zwar nicht die endgültige Befreiung von der irdischen Welt. Doch der Mensch muss ihn durchschreiten, um diese Befreiung zu erlangen.
Zuerst muss er den alttestamentarischen Zustand des ethisch reinen, sterblichen Ichs anstreben, um danach in die Freiheit des unsterblichen wahren Selbstes eintreten zu können. Der Übergang vom einen in den anderen Zustand kann große Probleme aufwerfen. Der Jahwe-Anhänger hatte sich an den Gehorsam gegenüber Jahwe gewöhnt. Er hatte sich bemüht, dessen Gesetze treu zu erfüllen.
Und jetzt sollte er die dadurch gewonnene Sicherheit wieder verlassen? Das Jahwe-Dogma und den Glauben daran, so schwer errungen, preisgeben, um den Schritt in die Freiheit des Christus zu gehen? Das war nur dann möglich, wenn er innerlich schon spürte, dass der Zustand der Ich-Identität im Jahwe-Gesetz noch nicht die wahre Freiheit bedeutete, und sogar bis zu einer bestimmten seelischen Reife den nächsten Schritt in die Freiheit des Christus verhinderte.
Mit dieser Schwierigkeit und dem daraus entstehenden Widerstand der damaligen Juden, sich dem Christus und seiner Freiheit zuzuwenden, hatte auch Paulus seit seiner Bekehrung zu kämpfen. Nur solche Juden konnten sich der neuen Freiheit zuwenden, die die ursprüngliche Bestimmung des Menschen, ein freies Geschöpf Gottes zu sein, noch oder wieder in sich spürten.
Doch aus eigener Kraft konnte niemand, der noch im Zustand des Jahwe-Anhängers lebte, die Bedingung erfüllen, ein Christus-Anhänger zu werden: Sein Ich-Leben im Leben des Christus-Geistes, der in ihm wirken wollte, aufgehen zu lassen. Auch dafür war Jesus gekommen: Er musste diese Schwierigkeit im eigenen Leben bestehen. Er hatte sich seiner Gottesgestalt entäußert, um in einer Knechtsgestalt inkarnieren und den Weg bis zu einem selbstständigen Ich gehen zu können. Mit der wieder wirksamen Gottesgestalt, die allmählich in ihm wieder erwachte und voll wirksam wurde, konnte er dann auch die wesentliche Bedingung, zur ursprünglichen Freiheit zu gelangen, erfüllen. Da ihm der innere Christus bewusst wurde, war es ihm möglich, das Jahwegesetz im Christus aufgehen zu lassen: Das Dogma durch die innere Freiheit der wieder erwachten Gottesgestalt zu ersetzen.
Nur durch sein Vorbild und die von ihm ausgehende Kraft konnten auch einige seiner Zeitgenossen, seine Schüler, den Zustand des Dogmen-Glaubens verlassen, aus dem inneren Christusprinzip zu leben beginnen und den Sinn ihres Daseins erfüllen.
Der Übergang vom Dogma des Gesetzes zur Freiheit des wahren Selbstes kann große Probleme mit sich bringen, damals wie heute.
Zuerst ist es sehr schwierig, das alte dogmentreue Jahwe-Ich, das so lange als lebenswichtig galt und einen Schutz gegen die Unbilden des Lebens bot, als Etappe zu erkennen, welche das Christus-Ich nur vorbereitet. Zweitens ist es überaus schwierig, in eine selbstständige Freiheit einzutreten, weil ein solcher Schritt gewaltige Angst vor einem Leben in dieser Freiheit auslöst. Drittens löst ein solcher Schritt noch gewaltigere Ängste aus, weil der Widerstand und die Rache der bisherigen Dogmen-Vertreter gefürchtet wird – weil mit der Hölle, dem Ausschluss aus der bisherigen Gemeinschaft, und mit "Acht und Bann" gedroht wird.
Die geistlichen Leiter des Christentums haben die Lehre des Christus über den Befreiungsweg als Dogma im Sinne des früheren Jahwe-Gesetzes missverstanden. Sie haben sich als Vollzugsorgane der christlichen Botschaft verstanden, diese aber wie früher als bloßes Dogma für das Verhalten des Gläubigen aufgefasst. Sie haben sich als Vertreter dieses neuen Dogmas gefühlt und geglaubt, sie würden den Weg des Christus kennen und zeigen. Wer aber diesen Christus-Weg als Dogma auffasst, zerstört gerade das Wesen dieses Weges: Freiheit zu sein. Die Vertreter dieses Dogmas haben sich zu Herren aufgeschwungen, statt den Gläubigen zu dienen. Sie haben die Kräfte des Christus für ihre eigene Herrschaft missbraucht und sich unter dem Namen des Christus-Vertreters etabliert. Diese Erschleichung der weltlichen Macht durch einen geistlichen Vorwand ist schwer zu durchschauen.
Auf diese Weise ist der dritte Entwicklungsschrift der Menschheit, der Aufbau eines inneren Tempels durch Abbau des selbstgerechten Ichs, immer wieder verhindert worden. Der Weg in die vom inneren Christus ermöglichte Freiheit wurde dadurch, dass er zum Dogma gemacht wurde, in sein Gegenteil verkehrt.
Wie lange wird es dauern, bis dieser schwer zu durchschauende Vorgang erkannt werden kann? Er liegt wie ein Albtraum über der Menschheit.
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