16.05.24

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - Brief zu Kafkas 100. Todestag


Briefe zum gnostischen Christentum


 „Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39)       München, Mai 2024

 

 Zum 100. Todestag Franz Kafkas am 3.6.2024

 

Liebe Leser,

dies ist kein Brief aus der Reihe "Briefe zum gnostischen Christentum". Sie erhalten hier aber einige Aphorismen Kafkas mit Gedanken, die der Gnosis ähnlich sind. Sie werden jeweils kurz kommentiert. Bei ihrer Abfassung befand sich Kafka, wie er erzählt, in einem Zustand "besonderer Helligkeit".

(Alle 109 Aphorismen sind abgedruckt und erklärt in dem Buch: "Kafkas Geheimnis" von Konrad Dietzfelbinger, Königsdorfer Verlag 2007)

 Aphorismus 32 stellt das Verhältnis vom Zerstörbaren zum Unzerstörbaren, vom Sterblichen zum Unsterblichen, unübertrefflich anschaulich dar:

„Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen.“

Die Krähen, das Zerstörerische, ja auch nur ein einziges zerstörerisches Element, „eine einzige Krähe“, könnte, so bildet sich das Zerstörerische und Zerstörbare ein, das Unzerstörbare, die tiefste Zuversicht und Kraft in uns zerstören. Aber diese tiefste Kraft in uns, der Himmel, gehört einer anderen Dimension an, einer Dimension, in der das Zerstörerische und Zerstörbare unmöglich ist. „Himmel" bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen. Deshalb ist das Unzerstörbare unzerstörbar, unerreichbar für noch so bösartige zerstörerische und selbstzerstörerische Tendenzen.

Es gibt aber seltene Augenblicke, wo uns dieses Unzerstörbare im eigenen Wesen zu Bewusstsein kommt. Dann sagen wir mit Kafkas Aphorismus 17:

„An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.“

Es ist der Stern des Lichtes einer anderen Dimension, der Dimension des Unzerstörbaren. Dieses Licht strahlt heller im Bewusstsein als auch das hellste Licht der zerstörbaren Erscheinungswelt.

Eine Voraussetzung dafür, das Unzerstörbare zu erleben, ist die Sehnsucht danach. Darüber spricht Aphorismus 16.

„Ein Käfig ging seinen Vogel suchen.“

Das Unzerstörbare in uns ist wie ein in Gefangenschaft geratener Vogel, der von uns selbst, von unserer am Vergänglichen hängenden Persönlichkeit, unserer sterblichen Identität, am freien Flug gehindert wird. Als Wesen mit einem auf die zerstörbare Welt gerichteten Ich-Bewusstsein sind wir selbst der Käfig für dieses Unzerstörbare. Wir können es nicht einmal wahrnehmen, da unser Ich-Bewusstsein seiner Struktur nach einer anderen Dimension angehört. Es gehört zu den „Krähen“, nicht zum „Himmel“. Und 'Himmel' bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen“.

Trotzdem ist es uns möglich auf einem inneren Weg diesen "Vogel" in uns zu finden.

Denn: „Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt; das Positive ist uns schon gegeben.“ Aphorismus 27.

Das Unzerstörbare ins uns, das Positive, ist schon da, in unserem Innern. Nur bemerken wir es im Allgemeinen nicht. Warum nicht? Weil wir es uns selbst verborgen halten.

Wie sieht dieser Weg aus? Alles Zerstörbare in uns muss allmählich bewusst und aufgelöst werden.

Aphorismus 1:

„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden.“

Das Leben ist das Seil, über das der wahre Weg geht. Es führt den Sucher nach dem Unzerstörbaren nicht über großartige Erfahrungen und Leistungen zum Ziel – es ist nicht in der Höhe gespannt und bietet keine glatte Bahn.

Das Seil verläuft vielmehr knapp über dem Boden, quer zum Weg. Es lässt den Sucher nach dem Unzerstörbaren immer wieder stolpern, über die kleinen Versuchungen, Aufgaben und Widrigkeiten des Alltags, und zeigt ihm dadurch seine Illusionen und Ängste, die Hindernisse vor dem Unzerstörbaren. Die eigenen Unzulänglichkeiten werden ihm bewusst, und dadurch kann er sie überwinden.

Aber es stellen sich ihm auch große Hindernisse entgegen, Aphorismus 20 ist ein Beispiel dafür:

„Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Zeremonie.“

Nach Leoparden dieser Art müssen wir heutzutage nicht lange suchen: Es sind unaufhörliche Angriffe aus einer politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wildnis. Wir sammeln, um diesem Ansturm zu widerstehen, in unserem Bewusstseins-Tempel durch ruhige Ausrichtung und Hingabe auf unser spirituelles Ziel Lebenskräfte in den Opferkrügen unserer Seele, Doch niemals kommen wir zur Ruhe. Immer wieder brechen die Leoparden in unser Bewusstsein ein, zerstören durch den von ihnen verbreiteten Schrecken die mühsam erworbene Ruhe, und rauben uns sogar unsere Energien: unseren Gehorsam gegenüber dem Unzerstörbaren.

Mitunter denkt der Wanderer auf dem Lebensweg nach vielen Kämpfen, er habe schon viel erreicht. Plötzlich meldet sich doch wieder der Zweifel, der berechtigte, korrigierende Zweifel:

Aphorismus 37:

„Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen.“

All der Fortschritt, all die Erkenntniserfolge – ein schöner Besitz, auf den der Kämpfer stolz sein kann. Aber was hilft dieser Besitz? Was hilft das Haben äußerer Dinge wie spirituelles Wissen, wenn das Innere nicht verändert ist? Wenn das Sein, das Unzerstörbare, sich nicht verwirklicht hat? Sein ist entscheidend, nicht Besitz. 

War nun alle Arbeit umsonst? Diese Frage erzeugt „Zittern und Herzklopfen“. Doch es ist gut, dass diese korrigierende Frage den Lebensweg ständig begleitet: Hast du dich wirklich verändert? Sind in deinem Innern tatsächlich Wirkungen des Unzerstörbaren bemerkbar geworden? „Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen.“

Doch schließlich kommen auch positive Momente:

Aphorismus 76:

„Dieses Gefühl: ‚hier ankere ich nicht’ – und gleich die wogende, tragende Flut um sich fühlen!“

Wem es gelingt, das Unzerstörbare nicht greifen, nicht darin ankern zu wollen, keinen Halt darin zu suchen, sondern es frei in sich wirken zu lassen, der wird erleben, wie es ihn trägt, wie es ihn umwogt wie eine Flut, in der er sich schwimmend fortbewegt.

Das größte Hindernis auf diesem Weg ist: Das Unzerstörbare greifen zu wollen, aus Angst, sonst ins Leere zu fallen. Es ist die gleiche Angst, die uns veranlasst, Macht über Dinge und Menschen zu suchen oder sie besitzen zu wollen. Wir fürchten immer, ihre Anerkennung und Liebe zu verlieren.

Wer aber das Unzerstörbare in sich erahnt oder gar erkennt, wird bemerken, wie sich allmählich auch sein Verhalten gegenüber der Welt und den Mitmenschen verändert. Das Unzerstörbare in ihm verändert es, er muss es nicht selbst tun. Er wird das Unzerstörbare auch in anderen Menschen erahnen oder erkennen.

Um mit Aphorismus 70/ 71 zu sprechen:

„Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch ist es, und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung aller Menschen.“

Oder Aphorismus 60:

„Wer der Welt entsagt, muss alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher, das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, dass man ihm ebenbürtig ist. “

Um dem Unzerstörbaren in sich Spielraum zu geben, wird er der Welt des Zerstörbaren entsagen und so auch erkennen, dass das Unzerstörbare alle Menschen miteinander verbindet.

Denn das wahre menschliche Wesen, das Unzerstörbare in jedem einzelnen anderen Menschen, „kann nicht anders als geliebt werden“ – vorausgesetzt, es ist im Betrachter der Menschen selbst verwirklicht, vorausgesetzt, die Liebe, das Unzerstörbare, ist in ihm selbst wirksam.

Auf diese Weise würde eine neue Welt entstehen.

Die Quintessenz aus all diesen Aphorismen lautet:

"Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben“ (Aphorismus 69).

 

 

Kommentare bitten wir brieflich oder per E-mail an die Adresse:

Königsdorfer Verlag, Zellwies 11, 82549 Königsdorf, bzw. E-mail-Adresse: koenigsdorfer-verlag@web.de zu richten, zu Händen von Konrad Dietzfelbinger.